Berlin, die große, weite Welt, denke ich, als ich mich Ende Februar aufmache in Richtung Hauptstadt. Endlich mitmischen im großen Politikbetrieb, all die Menschen persönlich treffen, die man sonst nur in der Tagesschau sieht. Und nach Feierabend durch die zahlreichen Berliner Museen schlendern, sich an der Vielzahl der Sprachen freuen, die man auf jeder S-Bahn-Fahrt hört und sich endlich mal nicht als Tourist, sondern als echter Berliner fühlen dürfen. So ungefähr hatte ich mir meinen Monat in Berlin vorgestellt.
Stattdessen stehe ich jetzt an einer einsamen Bushaltestelle in einem 500-Einwohner-Dorf im westlichen Brandenburg. Für eine Seite-Drei-Geschichte über die brandenburgischen Wölfe bin ich am frühen Morgen in Berlin aufgebrochen und nach anderthalb Stunden Bus- und Zugfahrt hier gelandet, um einen Interview-Partner zu treffen: einen Jäger, der vor umherstreifenden Wölfen warnt, weil er Angst hat, dass diese bald schon Menschen angreifen könnten.
Die einzige Möglichkeit, von hier zurück in die nächstgrößere Stadt zu gelangen, von der ein Zug nach Berlin fährt, ist der nächste Bus. Der fährt in genau drei Stunden und 49 Minuten. Als ich den Busfahrer, der mich hergebracht hat, frage, ob es noch eine andere Möglichkeit gibt, von hier wegzukommen, mustert der mich von oben bis unten und sagt trocken: „Sie haben doch zwei gesunde Beine.“ Ähm… Nun gut, sind ja nur zwölf Kilometer über die Landstraße, ohne Bordstein wohlgemerkt. Aber darüber mache ich mir dann später Gedanken. Jetzt versuche ich erstmal, meinen Gesprächspartner zu erreichen, nennen wir ihn hier mal „Herr Müller“.
Beim Metzger gibt es Hackepeter und Kaffee zum Mitnehmen
Mit Herrn Müller habe ich vorgestern telefoniert und vereinbart, dass ich heute vorbeikomme. „Rufen Sie mich einfach an, wenn Sie da sind. Ich bin sowieso immer vor Ort“, hat er mir gesagt. Ich rufe Herrn Müller also an, so wie wir das vereinbart hatten. Sein Handy ist aus. Ärgerlich. Ich warte einige Minuten, probiere es noch mal. Das Handy ist immer noch aus. Mit meinem Smartphone versuche ich nachzuschauen, ob ich eine Festnetznummer finden kann. Das Blöde: Der Empfang hier ist gleich Null. Obwohl ich immer wieder auf den „Aktualisieren“-Button drücke, zeigt mir mein Handy jedes Mal aufs Neue an, dass es leider gerade keine Verbindung zum Internet herstellen kann.
Nun gut, das Dorf besteht nur aus zwei Straßen. Ich weiß, dass Herr Müller hier irgendwo ein Geschäft betreibt, das kann bei zwei Straßen nicht so schwer zu finden sein. Und tatsächlich, nach einigen Minuten Fußweg stehe ich davor. Doch auch da ist Herr Müller nicht. „Der war heute noch nicht hier. Probieren Sie es mal beim Metzger, da ist er um diese Uhrzeit oft“, sagt mir ein Mitarbeiter. Den Metzger habe ich auf den Hinweg schon gesehen, das ist der kleine Laden in der Hauptstraße, vor dem zwei Traktoren geparkt waren. Als ich durch die menschenleere Straße zurücklaufe, vorbei an gepflegten Vorgärten und Hecken, in denen schon pastellfarbene Plastik-Ostereier hängen, denke ich kurz an Berlin: meine WG in Friedrichshain, zwischen einem Späti, einer rund um die Uhr belebten S-Bahn-Station, einem großen Techno-Club und einem veganen Supermarkt gelegen. Beim Metzger gibt es Hackepeter und Kaffee zum Mitnehmen. Doch auch da: Fehlanzeige, Herr Müller war heute noch nicht da. Die Verkäuferin sagt mir aber, dass er ganz in der Nähe (natürlich, sind ja nur zwei Straßen) ein Haus renoviert, vielleicht sei er dort.
Bevor ich hinlaufe, probiere ich es noch mal telefonisch. Keine Chance, das Handy ist immer noch aus. Ich überquere die Straße und treffe beim besagten Haus tatsächlich auf einen Mann. Das ist aber nicht Herr Müller, sondern einer seiner Mitarbeiter, der gerade einen Fenstersims mauert. „Nee, der Herr Müller, der ist heute gar nicht hier im Ort“, sagt er. Ärgerlich, wir hatten doch den heutigen Tag für ein Treffen vereinbart. Auch Herrn Müllers Mitarbeiter fällt erstmal nichts anderes ein, als zu versuchen, ihn auf seinem Handy zu erreichen. Das ist natürlich immer noch ausgeschaltet, was er mit den Worten „Ach, der ist mal wieder im Funkloch, das ist hier ständig so“, kommentiert. Letztlich kommt ihm doch noch eine Idee: „Mein Onkel wohnt hier nebenan, der kann Sie vielleicht hinfahren“, schlägt er vor. Gemeinsam gehen wir zum Nachbarhaus. Der Onkel, ein rüstiger Rentner, scheint überhaupt nicht erstaunt zu sein, dass sein Neffe plötzlich mit einer Wildfremden vor der Tür steht und ihn um einen Fahrdienst bittet. Ärgerlicherweise hat der Onkel keine Zeit, „ein wichtiger Arzttermin“, sagt er und zuckt mit den Schultern. Und nun?
Herr Müller kann nicht, er sitzt auf dem Bagger
Just in dem Moment klingelt das Handy von Herrn Müllers Mitarbeiter. Herr Müller ist dran, hat über Umwege erfahren, dass diese Journalistin, mit der er ja eigentlich verabredet war, da ist. „Mach´ den Sims morgen fertig und fahr´ die zu mir“, sagt er seinem Mitarbeiter. Wir verabschieden uns vom Onkel, vor dessen Haustüre wir immer noch stehen, und machen uns auf den Weg zum Haus von Herrn Müllers Mitarbeiter, wo sein großer, weißer Transporter steht. Ich denke kurz zurück, wie ich mir diesen Tag ursprünglich ausgemalt hatte: Hinfahren, Interview führen, ein nettes kleines Restaurant finden, in dem ich zu Mittagessen kann, und anschließend mit dem ersten Bus am Nachmittag wieder zurück. (Der Plan wäre so oder so am Restaurant-Besuch gescheitert: Das einzige Lokal im Dorf hat nur am Freitag- und am Samstagabend geöffnet.)
Über ruckelige, matschige Feldwege kutschiert mich Herr Müllers Mitarbeiter mit seinem Transporter ins nächste Dorf. Eine gute Viertelstunde lang fahren wir mitten durchs brandenburgische Nichts, links und rechts nur Wiese und Wald. Dann sind wir endlich da, wo auch Herr Müller ist: eine alte Fabrik, die abgerissen wird. Mehr als drei Stunden bin ich zu diesem Zeitpunkt schon unterwegs. „Herr Müller? Den finden Sie da hinten“, sagt mir ein Mann und deutet in Richtung Wald. Entschlossen stapfe ich über die schlammige Wiese in Richtung der Bäume, von wo lautes Getöse herüberschallt. Kurz vor meinem Ziel kommt mir ein weiterer Mann entgegen, nennen wir ihn hier einfach Herr Baumeister. „Sie wollen zu Herrn Müller? Der kann jetzt nicht, der sitzt gerade auf dem Bagger“. Ich frage mich, wie viel an diesem Tag eigentlich noch schiefgehen kann und schaue wohl leicht verzweifelt, als Herr Baumeister lächelt und sagt: „Aber ich weiß, worum es geht. Kommen Sie mit, ich kann all Ihre Fragen beantworten.“ Später kommt tatsächlich noch Herr Müller dazu, schüttelt mir kurz die Hand, sagt: „‘tschuldigung, das hab ich ganz verbrummt“ und verabschiedet sich direkt wieder, um zum Mittagessen zu fahren.
Zurücklaufen muss ich anschließend übrigens nicht: Herr Müllers Mitarbeiter hat die ganze Zeit über auf mich gewartet und bietet mir dann noch an, mich zum Bahnhof zu fahren, obwohl das ein ziemlicher Umweg für ihn ist. „Mach ich doch gern“, sagt er, als ich frage, ob das wirklich, wirklich okay für ihn wäre. Als ich am Abend wieder in Berlin ankomme, mich zwischen den Menschenmassen durchkämpfe, die schon in die S-Bahn einsteigen wollen, während ich noch nicht draußen bin, denke ich kurz zurück an die brandenburgische Einsamkeit. Auf dem Weg zu meiner WG komme ich an einem Straßenmusiker vorbei, der, nur bekleidet mit einer Pferdemaske und einem pinken Slip, eine ziemlich schiefe Version von „Ring of Fire“ singt. Eine völlig alltägliche Szene hier, nur ein paar Mädchen (augenscheinlich Touristinnen) bleiben kichernd stehen und filmen ihn mit ihren Smartphones. Schön ist es hier, in der Großstadt.
Welcher Text am Ende der Recherche entstanden ist, steht hier.